Im Sommer 2015 kamen täglich fast 500 Menschen am Hamburger Hauptbahnhof an: Aus unterschiedlichsten Gründen auf der Flucht und mit wenig mehr Besitz als der Kleidung am Leib. In einer Welle von Hilfsbereitschaft wurde gespendet, gesammelt, sortiert. Was lag da näher, als auch mit dem liebsten Hobby einen Beitrag zu leisten? Z. B. eine Spendenaktion zur Weihnachtszeit? „Aber wäre es nicht noch cooler, die Geflüchteten an die Alster zu holen und mit ihnen gemeinsam zu laufen?“ fragte Michael Brügmann, der Begründer von Alsterrunning, damals. Na klar, von so einer Idee muss man Laufliebhaber nicht lange überzeugen. Laufen kann schließlich jeder, bringt die verschiedensten Leute zusammen, die Sprache ist egal, kurz man braucht dazu nicht viel.
Voller Enthusiasmus beschlossen wir, den Lauftreff möglichst schnell ins Leben zu rufen und wählten als Auftakt den gemeinsamen Spendenlauf zu Weihnachten. Es war etwa Oktober, das sollte genug Zeit sein, um so eine Aktion durchzuziehen – dachten wir zumindest. Doch ziemlich schnell stellte sich heraus, dass für unsere Umsetzung vor allem eines fehlte: die Geflüchteten. In die Erstunterkünfte kommt man schon mal nicht ohne persönliche Einladung. Wenn wir unser Angebot den verschiedenen Flüchtlingsorganisationen präsentierten, waren die zwar von unserer Idee begeistert, vertrösteten uns aber meist auf einen späteren Zeitpunkt, da viele Erstunterkünfte noch im Entstehen begriffen waren und auch die frisch in Hamburg angekommenen Bewohner sich erstmal sortieren und einleben mussten. Damit schien unser Projekt wenn auch nicht komplett gestorben, doch zunehmend in weite Ferne zu rücken, wäre mir nicht zufällig beim Gründungsabend der Initiative „Wir im Quartier Winterhude“ im Goldbekhaus Nisihiti Tewolde begegnet. Ich hatte gerade in der Gruppe für die Sportangebote unseren Lauftreff vorgestellt, als es an die Tür klopfte. Nisihiti streckte ihren Kopf herein: „Ist das hier die Gruppe für Sprachunterricht?“ Sie war mir zuvor schon aufgefallen, als sie bei der Hauptversammlung berichtete, dass sie sich ehrenamtlich um Eritreer in einer Erstaufnahme in Langenhorn kümmerte. Als langjährige Hamburgerin und gebürtige Eritreerin beherrscht sie beide Sprachen und kann außerdem, was noch viel wichtiger ist, zwischen den Kulturen vermitteln. Eritrea, Läuferland, schoss es mir durch den Kopf und ich ergriff die Chance. „Sag‘ mal gibt es unter den Eritreern vielleicht Leute, die laufen wollen?“ Laufen? Sport sei sicher eine gute Idee, aber um die gesamte Alster? Chipzeitmessung? Eigentlich sei jetzt doch die Sprache erstmal wichtiger, zweifelte Nisihiti. Aber so schnell wollte ich nicht aufgeben, also holte ich alle erdenklichen Argumente für unseren Sport hervor und schlug zuletzt vor, den Eritreern unsere Idee persönlich vorzustellen, ablehnen könnten sie schließlich immer noch. Die Geflüchteten hätten doch gar keine Sportkleidung, zögerte Nisihiti. „Egal, das kriegen wir schon hin“, konterte ich, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie wir die Leute ausstatten sollten. Immerhin schien Nisihiti nicht abgeneigt sich umzuhören und wir tauschten Telefonnummern aus. Als ihr Anruf ausblieb, hatte ich die Hoffnung endgültig aufgegeben. Doch wie es der Zufall wollte, lief mir Nisihiti plötzlich an einer U-Bahnhaltestelle wieder über den Weg. Wir begrüßten uns sofort herzlich. Sie habe meine Telefonnummer verloren, entschuldigte sie sich, aber sie habe sich umgehört und tatsächlich, es gebe Interessenten. Wir verabredeten ein Treffen im Goldbekhaus mit einigen Alsterrunnern und etwa 18 Eritreern. Da die Eritreer sich zwar im U-Bahnnetz einigermaßen auskannten, sich aber darüber hinaus in Hamburg noch nicht orientieren konnten, holte ich sie an der U-Bahnhaltestelle Kellinghusenstraße ab. Als ich mich auf den Weg dorthin machte, hatte ich keine Ahnung, wer mich dort erwarten würde. Alle Absprachen liefen bisher über Nisihiti, die ihnen beschrieben hatte, wie ich aussehe und dass sie mit mir mitkommen sollten, Englisch verstünden sie auch. In der Kellinghusenstraße angekommen, ließ ich meinen Blick suchend durch die U-Bahn-Station schweifen und entdeckte statt der angekündigten 18 Personen lediglich zwei, die äußerlich infrage kamen. Etwas unsicher sprach ich die beiden an und Volltreffer: als Wegahta und Teklebhran stellten sie sich mir vor. Wega was, Teklewer? Wow, ob ich mir diese Namen jemals würde merken können? Sind das jetzt Männer- oder Frauennamen? Später erfuhr ich, dass die Eritreer mit den deutschen Namen exakt dasselbe Problem haben. „Where are the others?“ „We don’t know.“ antwortete Teklebhran. Ich nahm das so hin und gewöhnte mich in Zukunft an solche Schwankungen. Denn bald lernte ich, wenn Teklebhran sagte „Ok, we will come.“, dass ich mich auf diese Aussage hundertprozentig verlassen konnte, auch wenn nie ganz klar war, wie viele „we“ sein würden.
Im Goldbekhaus angekommen, trafen wir Michael Brügmann und die weiteren Laufsportaktiven Thomas Mantay, Kirsten und Andreas Griess. Teklebhran, der ältere der beiden, sprach fließend Englisch und übersetzte Wegahta, was Michael ihnen über Alsterrunning auf seinem Laptop präsentierte. Ihre höflichen Mienen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie mit unserer Chipzeitmessung nichts anzufangen wussten. Entsprechend zurückhaltend war ihre Reaktion. Außerdem stellte sich zu unserem Erstaunen heraus, dass sie die Alster gar nicht kannten, obwohl sie schon seit etwa drei Monaten in Hamburg waren. Dennoch ließen sich die beiden bereitwillig und vielleicht auch nur aus der für sie typischen Höflichkeit für ihren neuen Alsterrunning-Account fotografieren, nahmen ihre Chips und gespendete Laufschuhe entgegen.
Viele Monate später erzählte mir Teklebhran er sei damals eigentlich nur zum Übersetzen mitgekommen. Denn mit dem Laufen hatte er längst selbst in Dänemark, eine der vielen Stationen seiner Flucht, begonnen und so, seinem von Warten geprägtem Tagesablauf Struktur gegeben. Dass er dafür jetzt extra an die Alster fahren und einen Chip tragen sollte, leuchtete ihm nicht ein, zumal es doch völlig egal sei, wie schnell man laufe. Wiedermal so eine verrückte Idee der Deutschen. Unsere Schilderungen machten ihn dann aber doch neugierig und so ist ausgerechnet Teklebhran derjenige, der wirklich jedes Mal bis heute zum Lauftreff kommt, nie krank ist oder keine Lust hat. Nur ein einziges Mal, da war er auf Verwandtenbesuch.
Schon bei unserem ersten Treffen wurde klar, dass wir so gut wie nichts über Eritrea geschweige denn den Alltag von Geflüchteten in Deutschland wussten. Entsprechend löcherten wir die beiden mit Fragen. Sie erklärten uns, dass ihre Muttersprache Tigrinya sei. Diese semitische Sprache wird in Eritrea und Äthiopien von etwa 9 Millionen Menschen gesprochen und hat eine eigene Schrift Ge’ez genannt. Für uns sieht sie in etwa wie eine Aneinanderreihung von tanzenden Strichmännchen aus.
Aus Eritrea seien sie geflohen, weil dort kein freies Leben möglich sei. Das kleine Land am Roten Meer liegt gleich neben dem Land der Läuferlegende Haile Gebrselassie Äthiopien. In Eritrea herrscht eine Diktatur, bei der willkürliche
Tötungen, Verschleppungen und Folter an der Tagesordnung sind. Schwerwiegend gerade für die Männer ist der lebenslange Militärdienst, zu dem sie gezwungen werden, und der ihnen jegliche freie Berufswahl und ein selbstbestimmtes Leben verwehrt. Aus diesen Gründen fliehen monatlich bis zu 5000 Menschen aus Eritrea. Und zwei davon saßen nun vor uns und erzählten von ihrer gefährlichen Flucht zunächst nach Sudan, durch die Sahara nach Libyen und der oft mehrtägigen Fahrt im Boot über das Mittelmeer. In den folgenden Monaten hörten wir noch viel mehr Details und all die grausamen Geschichten, von denen wir vormals nur aus der Presse gehört hatten, bekamen nach und nach reale Gesichter. Bis heute frage ich sie immer wieder, ob sich dieser gefährliche Weg gelohnt habe, ob ihr neues Leben es wert sei, all diese Strapazen in Kauf genommen zu haben. Meist wird mir verständnislos und unmissverständlich „natürlich!“ entgegengeschmettert.
Unser Treffen endete mit Teklebhrans und Wegahtas Zusage, beim Nikolauslauf dabei zu sein und weitere Interessierte mitzubringen. Und so wartete ich am 6. Dezember 2015 zusammen mit Nisihiti an der Haltestelle Klosterstern auf die Gruppe künftiger Läufer. Schließlich wurde die Zeit knapp und Nisihiti rief Teklebhran an. Obwohl ich nichts verstand von dieser rollenden, hüpfenden Sprache, begriff ich, dass es ein Problem gab und wurde nervös. Und tatsächlich die Jungs warteten an der an der falschen Haltestelle, Kellinghusenstraße. Sie hatten das Wort „Klosterstern“ nicht verstanden und auch nicht mit dem Schriftbild überein bringen können. Mir sank das Herz in die Hose. Um 14 Uhr sollte der Lauf losgehen, der NDR war eingeladen worden, Michael wartete darauf, dass ich die Eritreer mitbrachte und wir hatten kaum noch 15 Minuten bis dahin. Nisihiti tat ihr Bestes zu erklären, dass sie wieder in die U1 einsteigen und dann eine Haltestelle später wieder aussteigen sollten. Hoffentlich nehmen sie die richtige Richtung, dachte ich. Zumindest Teklebhran gelang es mit seiner Gruppe, Wegahta dagegen war mit seinen Leuten irgendwo im öffentlichen Nahverkehr verloren gegangen, aber darauf konnten wir jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Denn es war bereits kurz vor zwei, als etwa 15 junge Männer mit hängenden Schultern und misstrauischem Blick aus der Bahn stiegen. Ihre Kleidung bestand ganz offensichtlich aus zusammengewürfelten Spenden, sie machten einen abgekämpften Eindruck und wirkten völlig verloren. Obwohl sie eher bedrückt wirkten, füllten sie den ansonsten ruhigen Bahnsteig im Klosterstern mit einer beachtlichen Kulisse aus fremdklingenden Lauten. Also, „let’s go, follow me“ rief ich. Irritiert und verständnislos folgte mir der Trupp. Ich wusste damals nicht, dass nicht alle Englisch verstanden. An der Alster angekommen, waren die Alsterrunner bereits am Start und mit Alsterrunning-T-Shirts ausgestattet. Jetzt musste alles schnell gehen. Michael war zum Startschuss bereit und die Jungs sollten doch auch noch Alsterrunning-T-Shirts bekommen. Einige Alsterrunner bemerkten geistesgegenwärtig, dass es nicht genug T-Shirts für die Jungs gab und plötzlich zog einer nach dem anderen das eigene T-Shirt aus und gab es je einem Eritreer. Mit dieser Geste war das Eis gebrochen und der Ehrgeiz der Jungs geweckt. In Jeans, Straßenschuhen und Alsterrunning-T-Shirts drehten sie ihre erste Alsterrunde. Nisihiti meinte später, sie habe die Jungs zuvor noch nie so ausgelassen erlebt, wie an diesem Nachmittag.
Wir saßen noch länger bei Glühwein zusammen, schließlich war auch Wegahta mit seiner verlorenen Truppe dazugestoßen. Mit diesem Lauf war unser ‚Running Club‘, wie wir ihn später nannten, begründet. Vor uns lagen noch viele Herausforderungen, wir brauchten zunächst einen abschließbaren Raum, in dem die Leute sich umziehen und ihre Wertsachen lagern konnten. Denn von Langenhorn bis zur Alster war es ein weiter Weg und besonders im Winter musste man Wechselkleidung deponieren können. Und natürlich benötigten wir vor allem Laufkleidung und Schuhe. Hier zeigten sich die Alsterrunner spendenfreudig, wenn auch die Herrengröße S so gut wie nie vertreten war und wir zum Teil auf Damenkleidung ausweichen mussten.
Die Schuhe waren und sind allerdings das größte Problem und daran wäre vielleicht auch alles gescheitert, wenn nicht das Laufwerk hier immer wieder großzügig bereit gewesen wäre uns Schuhe zu spenden. Regelmäßige finanzielle Unterstützung bekamen wir auch ein Jahr lang vom Goldbekhaus und der Initiative „Wir im Quartier“.
Die Gruppe zusammengehalten hat anfangs vor allem Teklebhran, der die Anderen bei Wind und Wetter motivierte. Ebenfalls bis heute immer dabei ist Thomas Mantay, der mit den Jungs anfangs ordentlich geballert hat und inzwischen zu einem Freund und Ansprechpartner geworden ist. Wenn „Herr Thomas“, wie sie ihn früher nannten, doch mal aus irgendeinem Grund verhindert war, versetzte das die Jungs regelrecht in Aufregung. Das alles aufzubauen, war schwieriger als gedacht und hinter uns liegen mehr als 120 bewegte Trainingseinheiten, in denen wir viel erlebt haben: drohende Abschiebungen, Transfers in andere Camps und Städte, Krankheiten und immer wieder mussten und müssen wir neue Räume finden, in denen wir uns umziehen können. Denn inzwischen lebt zwar keiner mehr im Grellkamp in Langenhorn, dafür aber in Altona, Neugraben oder Wandsbek. Trotzdem hält der lange Weg nicht davon ab, an die Alster zu kommen. Bis heute wird mit Leichtigkeit und Spaß gelaufen, egal welches Wetter, egal welche Kleidung. Gerade im ersten Winter hatten sie oft weder Mützen noch Handschuhe. Damals wurden sie von einigen Hartgesottenen Alsterrunnern wie MatsIsler, Bremslauefer oder DuracellShirin unterstützt, die sich auch von unseren ersten Terminen montags um 20:45 Uhr, nach dem Sprachkurs der Jungs nicht abhalten ließen. Wenn auch heute nicht mehr alle aus den Anfangstagen dabei sind, haben wir doch noch zu vielen von ihnen Kontakt. Darüberhinaus hat sich seit Dezember 2015 eine feste Gruppe von etwa fünf Leuten herauskristallisiert. Die bisher unangefochtene Bestzeit hält Merhawi mit 25:11, die er auch mal eben so nach mehrmonatigem Krankenhausaufenthalt raushaut und generell ohne Training, weil er einfach lieber Fußball spielt. Das ist bei Aron anders, er trainiert inzwischen bei Hamburg Running und entdeckte seine Laufleidenschaft bereits in seinem ersten Camp in München. Deshalb war er auch gleich Feuer und Flamme, als er vom Lauftreff an der Alster hörte und inzwischen hat er allein an der Alster 1188 Trainingskilometer absolviert. Die deutsche Sprache dagegen war anfangs nicht so sein Ding, da griff er lieber auf seinen „Actiontalk“ zurück, wie es die Anderen scherzhaft tauften. Doch irgendwie war klar, dass sein erster deutscher Satz „Ich liebe laufen!“ sein musste.